Man kann die madagassischen Traditionen nicht erwähnen, ohne auf einen ihrer größten Klassiker einzugehen: die wandernden Hira-Gasy-Truppen, eine emblematische Spezialität der Region Imerina. Diese darstellende Kunst entstand im zentralen Hochland und wurde durch die Kreativität des Merina-Volkes rund um Antananarivo geprägt. Sie vereint Gesang, Tanz, Theater, Musik und Kabary (Redekunst).
Die Aufführungen finden oft unter freiem Himmel auf öffentlichen Plätzen oder bei großen Festen statt und können den ganzen Tag dauern. Dabei treten mehrere Truppen in einem künstlerischen Wettstreit gegeneinander an, wobei das Publikum eine aktive Rolle bei der Bewertung spielt.
Hira Gasy entstand Ende des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft von König Andrianampoinimerina. Damals begleiteten diese Truppen seine politischen Reden, um die Aufmerksamkeit des Volkes zu gewinnen und wichtige Botschaften zu vermitteln. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Hira Gasy zu einem Mittel der Volksbildung, das moralische Werte, Sprichwörter (ohabolana), mündlich überlieferte Geschichten (lovantsofina) sowie universelle Themen wie Liebe, Arbeit und Solidarität vermittelt.
Die Künstler, mpihira gasy oder mpilalao genannt, tragen farbenfrohe Kostüme, die von der königlichen Hofmode des 19. Jahrhunderts inspiriert sind: rote Jacken und schwarze Hosen für Männer, lange, leuchtende Kleider für Frauen. Das Orchester kombiniert europäische Instrumente (Geige, Klarinette, Trompete, Trommel) mit lokalen Melodien und schafft so eine festliche, fesselnde Atmosphäre.
Diese Kunstform zeichnet sich durch die Synchronisierung von Sprache, Musik und Bewegung sowie durch die intensive Interaktion mit dem Publikum aus. Jede Aufführung ist geprägt von Humor, Ironie oder Gesellschaftskritik und vermittelt eine starke Botschaft, die den Geist des Fihavanana (soziale Verbundenheit und Harmonie) fördert.
Im Jahr 2021 wurde Hira Gasy von der UNESCO in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Die Kunstform wurde sogar in Aufklärungskampagnen, etwa im Kampf gegen HIV/Aids, eingesetzt.
Heute ist Hira Gasy aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten seltener auf den Straßen Antananarivos zu sehen, lebt aber dank privater Organisationen und kollektiver Kulturfeste weiter. Diese Kunst bleibt ein lebendiges Zeugnis des kulturellen Reichtums und der Widerstandsfähigkeit Madagaskars.